Eleganz und Leichtigkeit

Wir sind im Jahr 1890. Die Industrialisierung setzt auf schmucklose Zweckbauten, in reichen Vierteln orientiert man sich an historischen Vorbildern. Doch dann kommt der Jugendstil und hinterlässt seine dekorativen Spuren.

 

Fließende Linien, florale Muster, anmutige Frauenköpfe, feine Ornamente – ein besonders sehenswertes Beispiel gibt es in der Sporgasse 3. Das Haus ist aus dem 16. Jahrhundert. Der Kärntner Heinrich Kielhauser gründete hier eine Seifenproduktion, die weit über die Grenzen der Monarchie hinaus bekannt war. Die reizvolle Jugendstil-Fassade wurde um die Jahrhundertwende von seinen Söhnen in Auftrag gegeben. Verblüffend, dass es noch immer Seifen der Marke Kielhauser mit dem Zusatz „aus Graz“ gibt, vertrieben und wohl auch produziert von einer Wiener Firma. Wer sich den Jugendstil gut einprägen will, dreht sich kurz um – zum berühmteren Luegg-Haus an der Hauptplatzecke. Der Stuck aus dem 17. Jahrhundert zeigt ebenfalls ein florales Motiv, allerdings im üppigsten Barock. Hat man sich vom Schock erholt und wandert der Blick wieder zurück, weiß man was mit Eleganz und Leichtigkeit des Jugendstils gemeint ist.

 

Nur etwas mehr als 20 Jahre dauerte die Blütezeit dieser ganz besonderen Epoche – von 1890 bis zum 1. Weltkrieg. Von der Natur inspiriert entstanden nicht nur Bauwerke, sondern auch Möbel, Gemälde, Textilien, Schmuck, Keramik und Glaswaren. Die Kunst wurde Teil des Alltags, handwerkliche Qualität zum Markenzeichen.

 

In Graz gibt es besonders viele Jugendstilhäuser im Bezirk Jakomini und hier vor allem in der Pestalozzistraße und der Steyrergasse. Das ist praktisch, wenn man sich einmal eine Überdosis stilvoller Architektur holen möchte. In der Steyrergasse 152 fällt ein Fassadenmotiv mit Dreiviertelkreisbögen auf. Die einfachen Doppelfenster des Wohnhauses sind darin fantasievoll eingebettet. Wer in Graz Jugendstil sagt, muss auch Landeskrankenhaus sagen oder wie es jetzt heißt LKH Universitätsklinikum. 1912 in Betrieb genommen, galt es damals als größtes und modernstes Krankenhaus Europas. Die Jugendstilbauten mit ihren einheitlichen Fassaden haben auch mehr als 110 Jahre später nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Ebenso wie die kleine Kirche, für die Otto Wagner ein grandioses Vorbild am Steinhof in Wien schuf.

 

Aber warum heißt es eigentlich Jugendstil? Eine Münchner Zeitung, die sich vor allem mit diesem neuen Kunst- und Architektur-Stil beschäftigte, trug den namengebenden Titel „Jugend“. Etabliert hat sich der Ausdruck erst später. In anderen Ländern gibt es noch weitere Bezeichnungen wie zum Beispiel „Art Nouveau“. 

 

Im Jugendstil waren die Innenräume und deren Ausstattung mindestens so wichtig wie das Äußere. Im Hotel Wiesler am Grieskai ist ein Speisesaal noch im Original erhalten. Hängeleuchten und Ornamentstreifen gliedern den 17 m langen Raum. Ein Mosaikbild der Aphrodite zieht an der Stirnseite die Blicke auf sich. Das ist auch gut so, denn lieblos abgestellte Gegenstände stören ein bisschen den Gesamteindruck. Frauengestalten prägen den Jugendstil meist in idealisierter und verführerischer Pose. Der Kuss von Gustav Klimt als bekanntestes Gemälde dieser Kunstrichtung zeigt die Sinnlichkeit in einer Flut goldener Ornamentik. Dabei war es eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die Rolle der Frau wandelte sich gerade in Richtung mehr Selbständigkeit, Bildungswege standen plötzlich offen, die beruflichen Möglichkeiten stiegen. Die Damenmode wurde tragbarer, es gab sogar die erste Sportbekleidung für Frauen, wenn auch mit langen Röcken. Frauen wurden als Konsumentinnen wahrgenommen und auf Jugendstil-Plakaten gefeiert. Weibliche Berühmtheiten bis hin zu Nachtclubtänzerinnen waren gefragte Motive. Es gab natürlich auch Jugendstil-Künstlerinnen, doch noch blieben sie im Schatten ihrer männlichen Kollegen.

 

Obwohl ich bekennender Jugendstil-Fan bin, gibt es bei mir zuhause nur 2 Vasen aus dem Dorotheum. Aber das soll sich noch ändern. Ich spiele nämlich ab und zu Lotto. Und wenn ich dann sehr viel gewinne, kaufe ich mir eine Jugendstilvilla. Mit 78 Tipps gewinnt man zu 99,9 Prozent, allerdings sehr wahrscheinlich nur 1,5 Euro. Um alle 8 Millionen möglichen Tipps zu spielen, müsste man 12,2 Millionen Euro investieren. Ich bleibe daher bei meinen 3 Quick-Tipps. Mein Vater hat in den 1960er Jahren ein Auto bei einer Tombola gewonnen, meine Mutter in den 1980er einen Joker. Es könnte also in den Genen liegen. Für alle Fälle gibt es passende Bücher in meinen Regalen. Natürlich über den Jugendstil in Graz, aber auch über andere Städte. Noch lieber mache ich mich live auf Jugendstilsuche. Brüssel, Antwerpen, Stockholm, Paris, Riga, Barcelona, München und natürlich Wien  – ich bin noch lange nicht fertig. Sollte das mit der Jugendstilvilla nicht klappen, bei mir ums Eck gibt es die Seniorenresidenz Robert Stolz. Zumindest von außen kann man den Jugendstil an den wunderschönen Sprossenfenstern noch erkennen. Zum Vorlesen komme ich ja jetzt schon einmal in der Woche hin.

 



Jugendstil in Graz, Architektur um 1900, ca. 150 Gebäude mit traumhaften Fotos und kurzen Texten, Weishaupt Verlag, 2004 * Auf den unteren Fotos: Liebiggasse 12, Innenhof Herrengasse 13 (dort wo s'Fachl ist), Pestalozzistraße 62/Steyrergasse