Spurensuche eines Lebens

Hans Gross oder Groß wurde 1847 in Graz geboren und ist hier 1915 auch gestorben. Was man von ihm noch sieht: eine Büste in der Aula der Universität, ein Museum, eine Straßenbezeichnung und eine Tafel auf seinem Geburtshaus.

 

Diese Aufzählung unterlegt mit Fotos hätte auch Hans Gross als Beweismittel durchgehen lassen. Dass es zu wenig ist oder seiner Bedeutung nicht gerecht wird, ist Interpretation und Bewertung, abhängig von eigenen Erfahrungen, Einstellungen und Interessen. Und darum ging es ihm wohl. Als Untersuchungsrichter hielt er die Verbrechensaufklärung seiner Zeit für völlig unzulänglich. Sie stützte sich vor allem auf Zeugenaussagen. Und Zeugen können sich irren, täuschen, Dinge übersehen oder welche hineininterpretieren und sie tun das sehr häufig. Gross trat als erster für eine „akribische“ Beweissicherung am Tatort ein und wurde damit weltberühmt. Er, der Strafrechtler und Kriminologe begründete so die Kriminalistik, eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Aufklärung von Verbrechen. Wer jetzt bei den beiden Begriffen nachdenklich wird, hier ein schlichter Entwirrungsversuch: Kriminologie ist die Lehre und Kriminalistik die Anwendung. 

 

Die von ihm entwickelten neuen Methoden wie Tatortskizzen, Fotos, Fußspuren, Vermessungen oder chemische Untersuchungen gab es vorher nicht. Und er hat alles dokumentiert. Sein Handbuch für Untersuchungsrichter erschien erstmals 1893, soll in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden sein und stieß auf große internationale Resonanz. Er veröffentlichte auch noch weitere Bücher zum Beispiel über Täterprofile sowie zahlreiche Aufsätze. Schon 1886 richtete Hans Gross eine Lehrmittelsammlung am Landesgericht für Strafsachen ein. Waffen, Projektile, Präparate, Giftstoffe, Tatwerkzeuge, Material für Falschspieler - die Beweismittel aus echten Kriminalfällen ermöglichten eine fundierte Ausbildung von Studenten, Juristen und Kriminalbeamten. Sein Tatortkoffer ist legendär. Darin enthalten sind Utensilien für die Spurensicherung von der Lupe bis zum Schrittzähler, vom Zirkel bis zu Substanzen für chemische Analysen. Aktenpapier, Schreibmaterial und Stempel sind ebenso zu finden wie ein Kreuz und Kerzen für die Vereidigung. Allein dadurch änderten Zeugen nicht selten ihre Aussagen. 

  

Die Grazer Uni leistete einige Zeit Widerstand, seine revolutionären Ideen in die Lehre aufzunehmen. So folgte Hans Gross 1898 dem Ruf als Professor für Strafrecht an die Franz-Josephs-Universität Czernowitz. Die etwas mehr als 1.000 Kilometer von Graz entfernte Stadt, die in der südwestlichen und heute am 19. März noch kriegsfreien Ecke der Ukraine liegt, gehörte damals zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Gross wechselte 1902 an die deutsche Universität in Prag und wurde im Juli 1905 endlich als Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht in seine Heimat Graz berufen. 1913 ging für ihn ein Lebenstraum in Erfüllung, er wurde Leiter des weltweit ersten Kriminalistischen Instituts. Es bestand aus einer Bibliothek, einem Laboratorium, der schon beschriebenen Lehrmittelsammlung und einer kriminalistischen Station, an der Gross Untersuchungen durchführte und Gutachten erstellte.

 

Aus der Lehrmittelsammlung entstand nach einigen Wanderjahren durch Graz das heutige Kriminalmuseum in der Heinrichstraße. Natürlich ist der Tatortkoffer dort ausgestellt. Es gibt auch eine Sammlung von Gaunerzinken und Ausdrücken aus der Gaunersprache, dem sogenannten Rotwelsch. Eigentlich dafür gedacht, sich zu verständigen ohne verstanden zu werden, ist es unglaublich, wie viel wir übernommen haben. Ein paar Beispiele? Klamotten, Kluft, Polente, Stuss, Schmiere stehen, abgrasen, schnorren oder verpulvern. 

 

Nicht nur Hans Gross ist bekannt, auch sein 1877 geborener Sohn Otto, ein Psychoanalytiker. Allerdings nicht für seine wissenschaftlichen Arbeiten, sondern für seine Drogensucht, seine anarchischen Ansichten und sein sehr freizügiges Leben. Mich hat er zu dieser Blog-Geschichte über seinen Vater inspiriert. Denn sein Leben ist untrennbar mit dem Mythos Monte Veritá verbunden. Dort auf einem Hügel in Ascona in der Schweiz war ich im Herbst vorigen Jahres. An den in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bekannten Treffpunkt von Anhängerinnen und Anhängern alternativer Lebensformen, erinnert heute ein Museum, ein Park und ein Kongresszentrum.

 

Jedenfalls war Otto Gross wohl so etwas wie der Gegenentwurf zu seinem konservativen Vater, der seinen damals 36-jährigen Sohn nach einer Verhaftung als Anarchist sogar zwangsinternieren und entmündigen ließ. Er wurde aber bald wieder als genesen entlassen und starb 6 Jahre später in Berlin.

 

"Monte Veritá – der Rausch der Freiheit" ist ein Spielfilm, der im Dezember 2021 in die österreichischen Kinos kam. Im Herbst lief er bereits in Basel, sodass ich auf den Live-Einstieg vorbereitet war. Im Film spielt Otto Gross eine tragende Rolle. Die Kritik ist sich nicht ganz einig, findet den Film jedoch eher langatmig. Mir hat er gut gefallen. Sollte diese Blog-Denkreise auch als langatmig empfunden werden, dann gebe ich zu bedenken, dass das eine Bewertung ist. Ein paar Beweise wären gut, um es das nächste Mal besser zu machen …

 



Büste von Hans Gross in der Uni von Gustinus Ambrosi, 1915 * Bücher gibt es antiquarisch und neu aufgelegt * Infos und Sammlung Kriminalmuseum Hans Gross unter https://gams.uni-graz.at/context:km, Öffnungszeiten Mo 10-15 (Fixführung um 11) und Do 13-17 und nach Voranmeldung * Wikipedia liefert detaillierte Informationen über den Monte Veritá