The other alien und die Schnecken

Seit Kurzem steht ein kleines Kunsthaus vor dem großen Kunsthaus. Innen drin sind in einem Ausstellungsraum künstlerische Werke ausgestellt und oben auf wohnen Weinbergschnecken. Wirklich. 

 

Die Mini-Kunsthalle hat eine Beschriftung: Suahtsnuk. Tsnuk klingt ja fast schon nach Schneck, aber diese schleimige Fährte führt in die falsche Richtung. Mit einem etwas anderen Blickwinkel lässt sich das Rätsel vielleicht lösen. Oder am Ende dieser Geschichte erlesen. Alfredo Barsuglia ist in Graz geboren, sein künstlerisches Projekt gehört zur Steiermark Schau: was sein wird. Von der Zukunft zu den Zukünften. Außen am Haus werden sich bald die derzeit noch kleinen Hopfenpflanzen hochranken. Denn es war dem Künstler wichtig, auch ein Zeichen für die Veränderung des Klimas im Kleinen zu setzen. Im Innenraum werden wechselnde Ausstellungen gezeigt. Dieser Bereich ist nur dann offen, wenn das Kunsthaus geschlossen ist. Hineinspechteln ist aber immer möglich.

 

Auf dem begehbaren Dach wohnen schließlich in einem Grasbeet die besagten Weinbergschnecken. Wer jetzt wie ich an das sprichwörtliche Schneckentempo als Metapher des Künstlers für die Entschleunigung denkt, liegt wie mit dem Tsnuk-Schneck falsch. Nach Ende des Kunstprojektes werden die 250 Weinbergschnecken nämlich verspeist, als Denkansatz für die Fleischproduktion von morgen. Der Künstler erklärt, dass die Produktion von einem Kilo Schneckenfleisch um 90 Prozent weniger Ressourcen verbraucht als die Produktion von einem Kilo Rindfleisch. Ein wahrhaft vielschichtiges Kunstwerk also, dieses Suahtsnuk, es ist laut Beschreibung eine urbane Skulptur wie auch ein experimenteller Kunstraum und eine spontane Erholungsinsel. 

 

Mich faszinieren trotzdem die Schnecken am meisten. Und damit gleich die wichtigste aller Fragen: Wie schnell oder besser langsam ist denn so eine Weinbergschnecke eigentlich? Wikipedia tippt auf etwas mehr als 4 Meter pro Stunde. Die Wiener Schneckenmanufaktur Gugumuck meint auf ihrer Webseite, die Höchstgeschwindigkeit bei idealen Bedingungen beträgt 3 Meter pro Stunde. Für mich ist der Züchter von Hunderttausenden von Schnecken glaubwürdiger, er ist außerdem auch der Lieferant für das Kunsthaus-Projekt.

 

Schnecken werden so um die 5 Jahre alt, einmal im Jahr paaren sie sich mit einer anderen Weinbergschnecke. Schon in der Schule haben wir staunend gelernt, dass sie Zwitter sind, da ist das mit der Auswahl einfach. Aus den ziemlich vielen Eiern schlüpfen dann erbsengroße Jungschnecken mit Mini-Schneckenhäuschen. Den Winter verbringen Weinbergschnecken in ihrem Haus in Kältestarre. Sie fressen am liebsten zersetzte Pflanzenreste oder vergammelte Früchte. Die vom Gugumuck sind Feinspitze und bevorzugen verschiedene Salatsorten. Weinbergschnecken gehören zu den Schnirkelschnecken und stehen unter strengem Naturschutz. Wer sich dem momentanen Revival der Weichtiere in der Spitzengastronomie oder der Empfehlung des Künstlers anschließen möchte, kann also nicht gleich im Stadtpark zugreifen. Außerdem ist die Zubereitung wohl etwas speziell.

 

Das erste Mal, dass ich Schnecken gegessen habe, war in meiner Studienzeit in Graz. Gleich hinter dem Schloss Eggenberg gab es ein französisches Restaurant. Schnecken als Vorspeise waren in den 1970er Jahren besonders angesagt und wohl auch so etwas wie eine Mutprobe. In meiner Erinnerung haben sie ausgezeichnet nach Knoblauch geschmeckt. Erst vor etwa 2 Jahren hat mich das Thema Schnecken wieder ereilt. Beim Versuch möglichst viel Interessantes aus meiner Zeit in Wien mitzunehmen, bin ich auf Führungen in der Schneckenmanufaktur Gugumuck gestoßen. Zuerst wollte niemand mitgehen (igitt), dann kam Corona. Und jetzt hat Alfredo Barsuglias künstlerische Future-Food-Idee mich wieder daran erinnert.

 

Schnecken zu essen hat eine sehr lange Tradition. Den gesellschaftlichen Durchbruch als Delikatesse gab es beim Wiener Kongress. Der Hintergrund soll nach Kochbuchautor Gerd Wolfgang Sievers sein, dass der französische Außenminister dem russischen Zaren das Arme-Leute-Essen als Zeichen der Missachtung servieren lassen wollte. Doch sein genialer Koch kreierte die bis heute weltberühmten Weinbergschnecken nach Burgunder Art mit Knoblauch-Kräuterbutter. Der Zar war begeistert und mit ihm der ganze Adel. Die Schnecke trat ihren Siegeszug in die feine Küche an. Wien wurde zur Schneckenhochburg und hatte sogar einen eigenen Schneckenmarkt. Das Schneckenkochbuch von Sievers ist im Grazer Leopold Stocker Verlag erschienen. Auch die berühmteste österreichische Kochbuchautorin, die Grazerin Katharina Prato, hat in ihrem 1869 erstmals erschienenen Buch den Schnecken ein Kapitel gewidmet. Schnecken sind bis heute aus der traditionellen Küche Frankreichs, Italiens und Spaniens nicht wegzudenken. 

 

Ich muss übrigens nicht einmal nach Wien fahren, um eine Schneckenzucht kennen zu lernen, denn in Straden gibt es seit 3 Jahren die Manufaktur Vulkanlandschneck. Einstweilen begnüge ich mich jedoch mit selbstgemachten Apfelschnecken, möglicherweise auch danach …

  



www.suahtsnuk.at (Kunsthaus von hinten gelesen) * Weinbergschnecke, lateinischer Name Helix pomatia * Katharina Prato, Die gute alte Küche, Verlag Pichler/Styria * Steirische Weinbergschneckenzucht unter vulkanlandschneck.at * Die Wiener Variante unter gugumuck.com * Wiener Kongress: 1814/1815 * Bemalte Schnirkelschnecken bei UpTown ART in der Sporgasse