Von Bäumen, die Nummernschilder tragen

In Graz sind die Bäume nummeriert. Sie tragen kleine Metallplättchen, die eigentlich unauffällig sind, bis man sie einmal entdeckt hat. Dann passieren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zwei Dinge.

 

Man ist schwer verwundert, dass man sie bisher nicht gesehen hat und sie springen ab sofort unweigerlich ins Auge. Sie sind plötzlich überall, man kann nichts dagegen tun. Und wenn sie nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, verfällt man in eine Art Such- und Suchtverhalten. Ich drehe jetzt schon mal eine Runde um einen Baum, um das Nummernschildchen ausfindig zu machen. Das sieht offenbar seltsam aus, denn es haben mich schon Menschen darauf angeredet, was ich denn suche. Die sind dann nach der Antwort ebenfalls infiziert und es gibt keine Impfung dagegen.

 

Zum Thema Bäume muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin als Stadtkind aufgewachsen. Zugegeben in einer kleineren Stadt als Graz. Trotzdem fehlt mir irgendwie der Bezug zur Natur. Daher zählt die Identifikation von Bäumen nicht gerade zu meinen Stärken. Eine beste Freundin hat über Jahre hinweg sicher Tage in meine Baumbildung investiert. Mit mäßigem Erfolg: nur die Esche hat es neben der Birke, der Trauerweide und dem Kastanienbaum ins Langzeitgedächtnis geschafft. Dann kam Covid. Und mit dem Homeoffice eine neue Gewohnheit, doch wenigstens eine Stunde noch bei Tageslicht nach draußen zu gehen. Mit wachsender Begeisterung habe ich das Blühen der Bäume, Büsche und Blumen wahrgenommen, die unglaubliche Veränderung fast jeden Tag. Was für ein Wunder. 

 

Und eines Tages sind mir die Nummernschildchen aufgefallen. Diese kleinen Metallplättchen gibt es an so gut wie allen Bäumen entlang des Murradweges, der ja vor meiner Haustür vorbei führt. Es gibt sie aber auch sonst überall, wie ich jetzt weiß. 22.000 Bäume in Graz sind nummeriert. Über 2 Millionen gibt es insgesamt. Die ohne Nummern stehen vor allem in Wäldern oder auf privaten Gründen. Die mit den Nummern in städtischen Grünanlagen und Parks. Bei 2 Millionen kommen auf jede Grazerin und jeden Grazer fast 7 Bäume. Ein ausgewachsener Baum liefert jeden Tag etwa so viel Sauerstoff wie 10 Menschen zum Atmen brauchen. Wenn sie im Durchschnitt nur halb ausgewachsen sind, reicht für mich 1/5 eines Baumes. Graz kann also ruhig noch ein bisschen wachsen.

 

Mit dem Wahrnehmen der Schildchen steigt auch das Interesse an der Art der Bäume. Denn mit der Nummer ist es total einfach nachzuschauen, was für ein Baum das eigentlich ist. Dafür gibt es den Baumkataster, in dem die Baumart, der deutsche Name dafür und der Baumtyp erfasst sind. Manchmal steht auch das Pflanzjahr oder das Entnahmejahr dabei und eventuell eine Bemerkung wie z. B. Schiefstand. Baum-Kodierungsnummer eintippen und schon weiß man mehr.

 

Die Registrierung hat natürlich einen Sinn – sie unterstützt dabei, sicherzustellen, dass von den Bäumen keine Gefahr ausgeht und sie regelmäßig kontrolliert werden. 

 

Bei mir in der Siedlung gibt es viel Grünraum und daher auch einige Bäume. Und siehe da: auch sie tragen Nummern. Meine Nachforschungen ergaben jedoch, dass diese Nummern nicht im Baumkataster registriert sind. Offenbar hat die Hausverwaltung die Idee übernommen. Ich selbst besitze einen Geldbaum ohne Nummer. Insider wissen, das ist ein Sukkulent oder eine Sukkulentin mit bizarrem Wuchs. Und ja: ich weiß, dass hier das Gendern den grammatikalischen Regeln widerspricht. Der Geldbaum kommt ursprünglich aus Südafrika – das waren noch Zeiten, als Pflanzen statt Viren den Weg nach Europa fanden. Er verheißt Glück und Wohlstand. Der kleine Baum steht noch dazu in der Reichtumsecke. Er tut seinen Job ganz gut, ich kann nicht klagen. Zu seinen Eigenschaften gehört, dass er pflegeleicht ist. Trotzdem schaut er jetzt ganz anders aus als zum Zeitpunkt des Kaufs vor ein paar Jahren. Einige Blätter schrumpeln vor sich hin, aber immerhin treiben auch neue aus. Der Geldbaum gehört zu den für das Raumklima wertvollsten Zimmerpflanzen. Die fleischigen Blätter können viel Wasser speichern, die schrumpeligen natürlich weniger. Das ist gut für die Luftfeuchtigkeit. Sie nehmen auch Schadstoffe auf und sorgen so für ein richtiges Wohlfühlklima.

 

Ein wahrer Fundus an Bäumen ist der Grazer Stadtpark. Fast 10 Prozent der registrierten Bäume sind hier vertreten. Heute habe ich Nadelbäume entdeckt, die ausschauen wie abgesägte Äste zum Schutz von darunterliegenden Pflanzen. Bei näherem Hinsehen ist allerdings nichts abgesägt, sondern natürlich gewachsen. Es gibt nur kein Nummernschild. Mit etwas Kombinationsgabe konnte ich erkennen, dass die Nadelstruktur die gleiche ist wie bei einigen großen Bäumen in der Nähe. Die Recherche im Baumkataster ergibt: das sind Eiben. Und unter Eiben findet sich dann die Europäische Eibe und eine Abart davon: die kriechende europäische Eibe. Wie konnte ich nur bisher ohne dieses Wissen leben. Da tut sich eine völlig neue Welt auf.  Übrigens sprießen im Stadtpark schon die ersten Blümchen, obwohl es einige Minusgrade hat.

 



Baumkataster unter graz.at und auch sonst viele Informationen z. B. über den Stadtpark * der Geldbaum oder Crassula ovata * Europäische Eibe auf Wikipedia