Grazer und Wiener Fenster

Die Semmeringbahn hat 1854 die Verbindung von Wien nach Graz vollendet. Um diese Zeit boomten in beiden Städten auch die Kastenfenster. In Graz sind sie in historischen Gebäuden noch weit verbreitet und es gibt sie sogar neu interpretiert.

 

An der Nordwestseite des Karmeliterplatzes steht ein Gebäude, das seit 2011 durch eine besondere Fensterfront auffällt. Das ortsansässige Büro Love Architecture and Urbanism hat sich beim Umbau eine moderne Version der traditionellen Grazer Kastenfenster ausgedacht - außen eine Sonnenschutzverglasung und innen Schiebe-Elemente. Das Raumklima am Karmeliterplatz 2 mit den Jugend- und Familieninstitutionen soll sehr gut sein. Vielleicht färbt das ja auch auf's Betriebsklima ab.

 

Charakteristisch an Kastenfenstern sind zwei Fensterebenen im Abstand von mindestens 20 cm, die getrennt zu öffnen sind. Beim Grazer Fenster gehen die äußeren Flügel nach außen auf und die inneren nach innen. Beim Wiener Fenster öffnen sich beide nach innen. Lässt sich die Wiener Variante leichter reinigen, so sind bei der Grazer Version größere Fensterflächen möglich, die Beschläge machen die Außenseite attraktiver und die Zwischenfläche kann genutzt werden. 

 

Wohnte man in den ersten Häusern vor einigen tausend Jahren fensterlos, gab es später Lichtöffnungen, die mit Tierhäuten, Pergament, Leinen oder hölzernen Läden geschützt wurden. Noch im 15. Jahrhundert waren Glasfenster in Privathäusern selten. Die Produktion war teuer und lange Zeit nur in kleinen Formaten möglich, daher gab es zunächst bleigefasste runde Butzen und dann Glasrechtecke in Sprossenfenstern. Kastenfenster mit ihren thermischen Vorteilen sind eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Die Erzeugung beliebig großer Glasflächen ist überhaupt erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts möglich.

 

Mir haben sich die Grazer Kastenfenster erst jetzt erschlossen. Und ich sehe sie überall in der Innenstadt wie die Madonnen aus einer anderen Blog-Geschichte. Erkennbar sind sie am fassadenbündigen Abschluss und den sichtbaren Beschlägen. So kann man sie gut von der auch in Graz weit verbreiteten Wiener Version unterscheiden. Das Foto zeigt die Fenster vom Reinerhof am Schlossbergplatz, dem ältesten urkundlich erwähnten Gebäude in Graz. Die Fassade stammt aus dem Jahr 1840.

 

Wenn ich Lust auf Wien habe, gehe ich in Graz ins Café Sacher, auch bei empfindlich höheren Preisen. In Zukunft werde ich mit meinem Klimaticket wohl öfter nach Wien fahren und mich nicht nur, aber auch auf die Suche nach Wiener und Grazer Kastenfenstern begeben. Die gute Zugverbindung über den Semmering verdanken wir übrigens zwei genialen Persönlichkeiten: Erzherzog Johann, der die Trasse über Ungarn verhinderte und Carl Ritter von Ghega, der eine technische Glanzleistung vollbrachte. Die erste Gebirgsbahn der Welt ist seit 1998 UNESCO-Weltkulturerbe. Waren es 1854 noch 9 Stunden, braucht man heute nur mehr 2 ½. Ab 2028 werden es durch den Semmering-Basistunnel weniger als 2 Stunden sein.

 

Wenn wir schon bei verbindenden statt trennenden Aspekten sind: Die Autobahn ist seit 1991 durch das letzte fertiggestellte Stück Bad Waltersdorf Ilz-Fürstenfeld durchgehend befahrbar. Begonnen wurde mit dem Bau bereits 1960. Und die Flugverbindung gibt es auch noch. Graz gilt als ältester Verkehrsflughafen Österreichs und besteht seit 1914. 1925 startete das innerösterreichische Flugnetz Wien-Graz-Klagenfurt. Der Wiener Flughafen war damals noch in Aspern. Erst in den 1950-er Jahren entstand Wien Schwechat. 

 

Mir fallen auch noch andere verbindende Dinge ein: Beide Namen haben 4 Buchstaben, es gibt die Murinsel und die Donauinsel und extra für mich in beiden Städten eine Kärntner Straße. Beide haben sehr viel Grün, wobei Graz noch etwas mehr davon hat, was derzeit auch für die Stadtregierung gilt. Beide Südbahnhöfe sind jetzt Hauptbahnhöfe und überall ist die letzte Station der Zentralfriedhof. Ach ja, und fast hätten beide Städte eine U-Bahn ... 

 

 

Näheres zum Gebäude am Karmeliterplatz unter www.gat.st/news/der-neue-karmeliterhof-zeigt-eine-subtile-love-zu-grazer-bautraditionen * Informationen über die Semmeringbahn auf www.semmeringbahn.at * Geschichte des Grazer Flughafens: www.flughafen-graz.at/unternehmen/der-flughafen-graz/geschichte