Eine Stadt bringt ihre Identität auf den Boden

 Der Grazer Panther war schon Thema einer anderen Blog-Geschichte. Jetzt geht es um die Heraldik zu unseren Füßen, ganz genau um die Stadtwappen tragenden Kanaldeckel, aber nicht nur. 

 

Sagenhafte 24.500 öffentliche Kanaldeckel gibt es in Graz. Die unterirdischen Abwasserkanäle sind 846 km lang, eine Entfernung bis nach Berlin, wo es sogar ein eigenes Buch über die dortigen Kanaldeckel gibt. Wenn meine Rechnung stimmt, gibt es in Graz alle 34 m einen Zugang in die unterirdische Welt, die mit Gusseisen- oder Stahldeckeln gesichert ist. Die Größen, Formen und auch Oberflächenstrukturen sind unterschiedlich. Und viele tragen das Grazer Wappen und unterstreichen damit die Identität der Stadt, auch wenn der Panther ab und zu in die falsche Richtung schaut. Verewigt sind auch Herstellfirma, Belastungsklasse und Ö-Norm bzw. die in der EU gültige Norm für Kanaldeckel EN 124 aus dem Jahr 1994. Scheint irgendwie leichter gewesen zu sein, als durchzusetzen, dass Ladekabel bei allen Handy-Modellen passen. Viele Deckel stammen noch aus dem Grazer Traditionsunternehmen Zirl, das die eigene Gießerei 1992 nach mehr als 100 Jahren beendete. Auch Wallner & Neubert ist ein mehr als hundertjähriges österreichisches Unternehmen, das aber heute noch produziert. Ein Blick auf den Boden lohnt sich in Graz jedenfalls. Und ein bisschen Vorsicht, vor allem bei jenen meist rechteckigen Kanaldeckeln, die größere Öffnungsschlitze haben. Die Holding findet ca. 50 Schlüssel jährlich.

 

 

Überhaupt scheint die gängige Meinung widerlegt, dass Kanaldeckel weil ständig überfahren und übergangen ein unbeachtetes Dasein fristen. Eines unserer Wappenexemplare hat es bis nach Ferrara geschafft und ist im dortigen Manhole Museum ausgestellt. Für manhole gibt es tatsächlich auch die Übersetzung Mannloch, weil es um Öffnungen für genau eine Person geht. Warum es der Deckel nicht in die Bezeichnung des Museums geschafft hat, sondern nur die Einstiegsöffnung, ist nicht bekannt. Die Ausstellungsstücke wurden Stefano Bottoni, einem Musiker und Organisator von Straßenmusikfestivals über Mundpropaganda von überall aus der Welt zugeschickt. Auch aus Graz. Und so entstand ein Museum.

 

 

Sogar Bücher gibt es über Kanaldeckel, aus aller Welt oder aus Europa. Und Kalender. Manchmal steht dort, dass in London um ca. 1850 die erste Abwasserkanalisation gebaut wurde – zumindest nachdem das Wissen aus der Antike verschwunden war. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass Wien schon viele Jahrzehnte vorher als erste Stadt in Europa kanalisiert war. In Graz begann die Kanalisation so um 1890. 

 

Mich erinnern Kanaldeckel an einen Roman von Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer. Er handelt von drei Helden wider Willen. Vom Pazifisten Felix Bloch, der nach 1933 in den USA beim Bau der Atombombe hilft. Von Laura d'Oriano, die Sängerin werden will und als alliierte Spionin in Italien endet. Und von Emile Gilliéron, der mit Schliemann nach Troja reist und zum größten Kunstfälscher aller Zeiten wird. Faszinierend werden die echten Lebensläufe mit fiktiven Elementen vermischt. Und Bloch, späterer Nobelpreisträger, arbeitet zwei Seiten lang als Ferialpraktikant in einer Gießerei und zeichnet täglich Kanaldeckel, von oben, von unten, von der Seite. Warum mir das in Erinnerung geblieben ist, bleibt wohl ein Rätsel wie die vergessenen Erkenntnisse aus der Antike. Jedenfalls musste ich das Buch erst kaufen, um die Stelle zu finden und zu fotografieren, denn ich war vorher nur im Besitz des Hörbuchs. Aber vielleicht überlege ich mir einen Podcast …

 

Felix Capus, Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer, dtv * Stefan Paubel, Alte Kanaldeckel in Europa, Nora-Verlag * www.manholemuseum.it * Kalender Faszination Kanaldeckel 2021, DieReiseEule * Holding Graz, Betrieb Abwasser, Lagergasse 247, 8020 Graz